200 Jahre Diakonie Korntal - eine Würdigung

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Von Heinz Gerstlauer

Korntal Festakt am 4. November; Würdigung

Meine sehr verehrten Damen und Herren, sehr geehrte Frau Arndt

Sie haben mich zu Ihrer Jubiläumsveranstaltung eingeladen, um als Diakoniker Worte der Würdigung zu formulieren und aus meiner Sicht ein paar Punkte zu künftigen Herausforderungen zu sagen.

Gründerfiguren mit klarer Haltung und unternehmerischem Geist

1823 wurde in Korntal mit der Gründung der Kinderrettungsanstalt der diakonische Grundstein gelegt. Drei Jahre zuvor wurde die Brüdergemeinde Korntal als weltliche Gemeinde und als Bergungsort gegründet. Die historischen Hintergründe sind Ihnen vermutlich bekannt: Verarmung der Bevölkerung auch infolge der napoleonischen Kriege, Landflucht, Glaubensnot durch den absolutistischen Herrscher Friedrich I., massenhafte Auswanderung aus Württemberg. Das ist die Folie, auf deren Hintergrund mutige Männer und Frauen, vorwiegend aus dem Pietismus stammend, agierten und sich tatkräftig der inneren und äusseren Verelendung entgegenstellten. Ich erinnere an August Hermann Franke in Halle, an Christoph Ulrich Hahn in Stuttgart, Gustav Werner in Reutlingen.

Sie alle waren interessiert an einer 'Praxis pietatis', wie Spener sie formuliert und gefordert hat. Interessiert an einem Glauben, der die Welt nicht nur theologisch interpretiert, sondern zum Guten verändern will. Darum ist es nur konsequent, dass in Korntal bereits drei Jahre nach der Gründung des Ortes weltliche und geistlich-diakonische Gemeinde sich nicht gegensätzlich, sondern gemeinsam entwickelt haben. Korntal sollte Bergungsort für Migrationswillige, für verarmte oder verwaiste Kinder werden. Ein Ort, an dem Schutz und Fürsorge, Verantwortung und Mut, Gott und die Welt zusammen gedacht wurden. Liturgia, Martyria und Diakonia vereint als Zeichen einer Kirche für die Welt und in der Welt. Glaube in Wort und Tat. Ein Glaube und eine Frömmigkeit, die sich nicht abkapselt von der Welt und im Betsaal ihre private Seligkeit pflegt, sondern die hineingeht in die Welt, dort wo man sie braucht. Später hat Bonhoeffer einmal gesagt: "gregorianisch singen darf nur, wer auch fur die Juden schreit". Paul Lechlers Wahlspruch lautete: "Unser Christentum darf nicht nur Weltanschauung sein,sondern muss sich durch die Tat bewähren"

Das ist beeindruckend an ihrer Geschichte. Tätig werden, weil man Not sieht. Diakonie ist bis heute ja vor allem auch eine Sache der Wahrnehmung und der Haltung. Es braucht - um es modern zu sagen - einen diagnostischen Blick, der Problemlagen wahrnimmt und analysiert. Es braucht gut ausgebildete Mitarbeitende, die Not "sehen".

Und das zweite, was es braucht ist eine Haltung, die aus dem reinen Wahrnehmen einen Handlungsauftrag ableitet. Die sich in Gang setzen lässt. "Gehet hin", hat Jesus gesagt und nicht: "schaut zu". Diese Bewegung und diese Haltung ist spürbar, bis heute.

Und das Dritte. Sie begreifen Gaben als Aufgaben. Am Anfang Ihrer Geschichte hat der Kreuzer des Postkutschers genügt und Mut gemacht, Diakonie zu unternehmen und nicht zu unterlassen. Tätig werden, nicht weil da ein Staat oder wer auch immer mit dem Scheckbuch winkt und gleich alle Kosten übernimmt. Selbstverständlich sind Pflegesätze und wirtschaftliches Haushalten wichtig. Ein Hinweis für uns Heutige, nicht zuerst nach dem Geld, sondern nach dem Not-wendigen zu fragen. Nicht Sicherheit, sondern Verantwortung übernehmen. In die Stadt, in ihre Quartiere zu gehen und sich nicht herauszuhalten. Vielleicht ist unsere Gegenwart wieder so eine Krisenzeit, in der wir diakonische Verantwortung neu spüren und umsetzen müssen. Vielleicht müssen wir neu lernen,was es heisst, wenn Jesus gesagt hat: Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, alles andere wird kommen. Gerade in unserer Arbeit in der Stiftung achten wir auf solchen Unternehmergeist, der nicht zuerst nach dem materiellen Gewinn, sondern nach dem gesellschaftlichen Nutzen fragt.

Das Vierte: Es ging und geht nicht nur um Minimierung bestimmter Notlagen durch verschiedene Angebote. Hilfen in der Not sind wichtig (Vesperkirchen ...). Aber Ihren Gründern und Ihnen selbst geht es auch um Hilfen aus der Not. Darum wurde Wert auf Bildung und Ausbildung gelegt. Es wurden Schulen nicht nur für Jungen, sondern auch für Mädchen gegründet,damit junge Menschen ihr Leben selbständig führen können. Dieser Impuls steckt bis heute tief in Ihren Knochen. Darum geht es bei der Integration von Geflüchteten, darum geht es in der Kinder- und Jugendhilfe. Und bei dieser Bildung geht es um Funktionswissen und um Orientierungswissen. Kopf und Herz gehören zusammen. Und letztlich geht es auch um Herzensbildung, um soziale und emotionale Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien.

Das Fünfte: In der diakonischen Arbeit geht es nicht nur um Entwicklung. Dieser Anspruch kann zu Überforderung führen. Manchmal muss man Dinge schlicht aushalten. Und wenn das so ist, dann ist Fürsorge oder Pflege angesagt. Darum kümmern Sie sich auch um alte oder müde gewordene Menschen in den Einrichtungen der Altenhilfe. In der Diakonie haben wir lange vor allem Konzepte der Aktivierung, der Überwindung, der Autonomie gepflegt und gefördert und dabei den Aspekt der Fürsorge, des Schutzes, der Nächstenliebe vernachlässigt. Soziologen sprechen heute von einer erschöpften Gesellschaft und vielleicht ist das auch eine Ihrer Stärken, diese Haltung zu leben.

Ich kann und will nun nicht die ganze Entwicklungsgeschichte der Diakonie in Korntal oder Wilhelmsdorf rezipieren. Die ist Ihnen bekannt genug. Und auf Ihre Geschichte können Sie stolz sein, oder besser gesagt dankbar sein. Es ist Ihnen gelungen, sich den Herausforderungen verschiedenster Zeiten zu stellen, die Entwicklung des Wohlfahrts- und Sozialstaates zu verfolgen und für sich selbst zu gestalten. Es gelingt Ihnen, auf vielfältige Weise nah an den Menschen zu sein.

Orte des Guten und Orte des Bösen

Aber im Laufe Ihrer Geschichte haben Sie erfahren, dass Orte des Guten die gleichen sein können wie die Orte des Bösen: die Kirche, die Familie, das Heim oder das Bett  Kinder sind in ihrer Entwicklung auf Persönlichkeiten angewiesen, denen ein dreifaches 'V' zukommt: Vertrauenswürdig, Verlässlich und Verfügbar. Im Rahmen der Aufarbeitung ihrer Heimgeschichte kam ans Licht, dass Vertrauen in Missbrauch umgeschlagen ist und es zu furchtbaren Traumatisierungen missbrauchter Kinder kommen kann. Geschichte hat man nie ohne das Bittere, sowie man das Meer nicht ohne Salz haben kann. Auch wenn wir es gerne anders hätten. Es gibt keine weißen Westen.

Es zeichnet Korntal aus, dass es sich der Geschichte gestellt und 2019 sogar ein Schuldbekenntnis formuliert hat. Und auch in Ihrem Jubiläumssymbol hat diese Geschichte ihren Platz. Meine Aufgabe ist es nicht, diesen Prozess der Aufarbeitung zu kommentieren.

Dieser Prozess hat Sie als Opfer und Täter, innen und aussen belastet und viel Kraft gekostet. Sie alle sind nicht die gleichen geblieben. Daher muss die Konsequenz sein, daraus Lehren zu ziehen, Schutzkonzepte zu entwickeln, Achtsamkeit einzuüben, Mitarbeitende zu schulen und dem Missbrauch von Anfang an zu begegnen. Und dort, wo traumatische Erlebnisse Menschen dazu bringen, wie Lot's Weib zu erstarren, ihnen Hilfe und positive Bilder ihrer eigenen Zukunft anzubieten, damit sie Schritte in ihre Zukunft gehen können. Die Würde des Menschen ergibt sich nicht einfach so, auch sie braucht Schutz. Aus Fehlern kann man lernen und aus begangener und bewältigter Schuld kann Neues entstehen.

Daraus könnte für Sie die Aufgabe erwachsen, ein moderner „Bergungsort" zu sein. Ein Ort, an dem man sich geschützt und geborgen fühlt. Konzepte dazu haben Sie ja entwickelt und implementiert.  Die Diakonie der Brüdergemeinde atmet spürbar und sichtbar den „spirit" ihrer Gründer. Methoden und Konzepte werden sich ändern, aber das Ziel bleibt das gleiche: Menschen zu einem würdigen Leben zu verhelfen.

Ich finde es gut, dass Sie zum Auftakt Ihres Jubiläums nicht nur eine Pressemitteilung herausgegeben haben, sondern zu einem Fest einladen. Gerne trage ich als Vorstand der Lechler Stiftung etwas zu Ihrer Freude bei und habe Ihnen einen kleinen Scheck mitgebracht, der Sie bei der Weiterentwicklung Ihrer tiergestützten Pädagogik auf dem Schulbauernhof untersützen soll. Wiehern und Grunzen, Gackern und Pfeifen, Streicheln und Füttern, Pflegen und Hegen sollen Ihnen gut tun.

Für Ihre weitere Arbeit und Entwicklung wünsche ich Ihnen gute Unterstützung, wohlwollende und kritische BegleiterInnen, Mut und Haltung, aber in allem Gottes guten Segen.

Heinz Gerstlauer

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